Große Augen versuchen über die Ladentheke zu schielen. Ein flehentliches Bitten an die Mama im Hintergrund. Dann das verzückte Lachen. Eine Wolke puren Glücks senkt sich herab. Gierige Kinderhände umschließen den Holzstiel und ein Zuckerwatteball, größer als der kleine Volksfestbesucher selbst, hat wieder einen Abnehmer gefunden. Der süße Hauch von Nichts ist insgeheim das Highlight auf jedem Volksfest, auch auf dem Oktoberfest. Unsere Redakteurin findet, dass es Zeit wird der süßen Nascherei endlich einmal die Würdigung zu erweisen, die ihr zusteht.
Was macht einen Oktoberfestbesuch wirklich einzigartig? Das Bier kann es nicht sein. Das gibt es schließlich auch im Supermarkt nebenan. Ähnlich verhält es sich mit Schweinebraten, Hendl und Kaiserschmarrn. Alles Köstlichkeiten, die man auf der Wiesn gerne mal zu sich nimmt, aber eben nicht exklusiv auf dem Volksfestplatz zu erhalten sind. Omas Schweinebraten zieht man der Massenabfertigung sowieso vor. Man könnte jetzt anbringen, dass gebrannte Mandeln doch recht konstituierend für das Erlebnis Volksfest sind, da es diese abseits des Festgeländes eben nicht an jeder Ecke gibt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die mit Zucker überzogenen Nüsse längst den Einzug in den Alltag gemeistert haben. Ein bekannter Schokoladenhersteller wirft beispielsweise jedes Jahr vor Weihnachten die Winteredition mit kandierten Nüssen in die Supermarktregale und in Feinkostläden gibt’s die süßen Schalenfrüchte auch das ganze Jahr durch. Keineswegs ein Oktoberfest-Unikat also.
Die wahre und wirkliche Singularität des Volksfestes ist ein Kinderklassiker, der von Erwachsenen viel zu oft verschmäht, anstatt gewürdigt wird. Zuckerwatte am Stiel in all ihrer Luftigkeit und Verletzlichkeit gibt es nur auf Volksfesten. Böse Zungen werden jetzt anmerken, dass es das Zuckerwerk mittlerweile auch haltbar in Plastik verpackt und für jeden im Tante-Emma-Laden zu kaufen gibt. Aber sind wir mal ehrlich: Das hat doch nichts mehr mit der feinen Struktur einer frisch gewickelten Zuckerwolke zu tun. Wer die richtige Erfahrung haben möchte, muss sich aufraffen und zum Süßigkeiten-Stand des Vertrauens gehen. Plastiktüten lassen doch keine Kinderaugen strahlen. Spindeldürre Kristallfäden, die der Schwerkraft zu trotzen und aus purer Luft zu entstehen scheinen, schaffen aber genau das.
Ihren Ursprung hat die Zuckerwatte vermutlich schon im 16. oder 17. Jahrhundert, der genaue Zeitpunkt ist jedoch unbekannt. 1897 meldet William Morris zusammen mit Konditor John C. Wharton aus Nashville, Tennessee am örtlichen Patentamt das Patent für die erste Zuckerwatte-Maschine an. Ab diesem Zeitpunkt ist der Erfolg der süßen Nascherei nicht mehr aufzuhalten. Gleichzeitig könnte man die Erfindung der Maschine als einen der unauffälligsten Marketing-Coups jemals bezeichnen. Der Tüftler William Morris war nämlich Zahnarzt. Einfacher kann man sich einen lebenslangen Nachschub an zahlender Kundschaft wahrscheinlich auch nicht sichern.
Dabei ist die Zuckerwatte gar nicht so zahnschädlich, wie sie im ersten Blick aussieht. In einer großen Portion stecken gerade einmal 3-5 Gramm des Kariesbeschleunigers. Zum Vergleich: Ein Glas Cola (200ml) enthält bereits 18 Gramm Zucker. Das ist mehr als drei große Zuckerwatten… und die isst ja jetzt nun wirklich niemand.
Dieses Jahr erlebt die Zuckerwatte auf der Wiesn endlich ihr großes Revival. Sie ist die In-Leckerei auf dem größten Volksfest der Welt. Ihr Siegeszug ist einfach erklärt: Kinder lieben das Wunder der Zuckerkunst sowieso und auch Erwachsene fühlen sich um Jahrzehnte verjüngt, sobald der sich der süße Hauch auf die Zunge legt. Was bleibt einem denn auch übrig? Ein wohldosierter Zuckerschock, klebende Hände und das Zuckerzepter in der Hand. Eine schnellere Anti-Aging-Kur kann sich kein Kosmetikkonzern ausdenken.
Die Zuckerwatte ist wieder in der Mitte der Oktoberfestgesellschaft angekommen und auch unsere Redakteurin freut sich schon wie ein Kind auf den süßen Traum. Sie geht jetzt erstmal auf die Theresienwiese und stolziert mit ihrem Zuckerball über das Volksfest. Zwar ist das Größenverhältnis zwischen Körper und Zuckerwolke heute ausgeglichener als zu Kinderzeiten, der Holzstab wiegt aber auch nach Jahren noch genauso schwer in der Hand. Das Meer bunter, wippender Stabwölkchen ist wieder eröffnet!